Foto gletscher1900
gletscher1900
Der Rhonegletscher (mit dem Hotel Gletsch im Vordergrund links, Blauhaus Mitte) im Jahr 1900. Der Gletscher erreicht fast die Passstrasse.

Klimawandel sichtbar

…? was dann, wenn die Gletscher weg sind?

(aus Coop-Zeitung Nr. 27, vom 1. Juli 2014)

Klimawandel. Wo stehen wir hier und jetzt in der Schweiz in Be­zug auf die Klima­ver­än­de­rung? Die Coop­zei­tung hat bei den un­ter­schied­lichs­ten Per­so­nen, Fir­men und Or­ga­ni­sa­tio­nen nach­ge­fragt.

Franz Bamert

Foto gletscher2014
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114 Jahre später. Der Gletscherabbruch ist aper (das Hotel Gletsch und das Blauhaus befinden sich im Rücken des Fotografen).

Das Wasser

Rebekka Reichlin, Bundesamt für Umwelt

«Das Wasser wird uns nicht aus­ge­hen, denn der gröss­te Teil un­se­rer Was­ser­re­ser­ven stammt von den Nie­der­schlä­gen. Mit den stei­gen­den Tem­pe­ra­tu­ren wird sich das Ab­schmel­zen der Glet­scher be­schleu­ni­gen. Mit­tel­fris­tig wird des­halb mehr Was­ser aus ver­glet­scher­ten Ge­bie­ten zu­flies­sen. Erst lang­fris­tig, wenn das Glet­scher­eis stark ge­schrumpft ist, wird der Ab­fluss aus den ver­glet­scher­ten Ge­bie­ten wie­der ab­neh­men. Die Schweiz ver­fügt über sehr gros­se Was­ser­re­ser­ven. Trotz­dem kann es im Som­mer bei lan­ge an­hal­ten­der Troc­ken­heit lo­kal zu Was­ser­knapp­heit kom­men. Mit dem Kli­ma­wan­del dürf­ten sol­che Si­tua­tio­nen häu­fi­ger wer­den.»

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Die Fische

Roland Seiler, Zentralpräsident Schweizerischer Fischerei-Verband SFV

«Der Temperatur­an­stieg senkt den Sau­er­stoff­ge­halt in den Ge­wäs­sern. Gleich­zei­tig steigt der Sau­er­stoff­be­darf der Fi­sche durch er­höh­te Ak­ti­vi­tät. Dies führt bei den Fi­schen zu Stress, Rück­gang der Nah­rungs­auf­nah­me, Er­hö­hung der An­fäl­lig­keit auf Krank­hei­ten, Stoff­wech­sel­prob­le­me, was zum Tod führt. 8 von 55 frü­her ein­hei­mi­schen Fisch­ar­ten sind be­reits aus­ge­stor­ben, wo­bei ver­schie­de­ne Ur­sa­chen an­zu­füh­ren sind. 70 Pro­zent der ver­blie­be­nen Fisch­ar­ten sind mehr oder we­ni­ger ge­fähr­det und der Kli­ma­wan­del er­höht die Ge­fahr des Aus­ster­bens.»

Die Landwirtschaft

Sandra Helfenstein, Schweizer Bauernverband

«Der Klima­wan­del ist für die Land­wirt­schaft in zwei­er­lei Hin­sicht eine Her­aus­for­de­rung: Ers­tens, in­dem sie ih­re Emis­sio­nen zum Bei­spiel beim Aus­brin­gen von Dün­gern oder mit an­ge­pass­ter Füt­te­rung der Nutz­tie­re re­du­ziert oder bei der Pro­duk­ti­on er­neu­er­ba­rer Ener­gi­en mit­hilft. Zwei­tens, weil sie von den Ver­än­de­run­gen sel­ber stark be­trof­fen ist. So ma­chen uns lan­ge Pha­sen oh­ne Re­gen oder ext­rem heis­se Som­mer ver­mehrt zu schaf­fen. An­de­re Wet­ter­ext­re­me wie hef­ti­ge Ha­gel­stür­me, Über- oder Ab­schwem­mun­gen neh­men eben­falls zu und brin­gen Er­trags­ein­bus­sen oder gar To­tal­aus­fäl­le mit sich.»

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Der Berg

Heidi Schwaiger, SAC Schweizer Alpen Club

«Durch die Aus­ape­rung (Schmel­zen des ewi­gen Eises und des Per­ma­frosts) wer­den ge­wis­se Rou­ten in­fol­ge Stein­schlag sehr ge­fähr­lich oder nicht mehr be­geh­bar. Berg­schrün­de sind öf­ter schwie­ri­ger zu über­que­ren. Rou­ten auf Glet­schern müs­sen lau­fend be­ur­teilt und an­ge­passt wer­den. Quel­len (in­klu­si­ve Glet­scher­was­ser) müs­sen wei­ter ent­fernt ge­sucht wer­den. Die Hüt­ten­we­ge müs­sen ver­mehrt neu an­ge­legt wer­den (Stein­schlag, in­sta­bi­le Mo­rä­nen, Glet­scher­rück­gang).»

Der Wald

Raphael Schwitter, Leiter Fachstelle Gebirgswaldpflege, Maienfeld

«Eine Zu­nah­me Wald schä­di­gen­der Stür­me lässt sich für die Schweiz be­reits nach­wei­sen. Auf Bäu­men le­ben­de In­sek­ten und Pil­ze kön­nen sich plötz­lich zu Schä­dlin­gen ent­wic­keln. Im un­güns­ti­gen Fall deh­nen sie sich in bis­her noch un­be­sie­del­te Ge­bie­te aus und ver­ur­sa­chen dort gra­vie­ren­de Schä­den. Nebst den lang­sam ab­lau­fen­den Ver­än­de­run­gen kön­nen häu­fi­ge­re Ext­rem­er­eig­nis­se für den Wald plötz­li­che Ver­än­de­run­gen brin­gen (star­ke Stür­me wie Lo­thar 1999 oder ext­rem troc­ke­ne Som­mer wie 2003). Wir müs­sen da­mit rech­nen, dass Fich­ten in tie­fe­ren La­gen häu­fi­ger durch In­sek­ten (Bor­ken­kä­fer) be­fal­len wer­den. Frem­de Ar­ten (Neo­phy­ten) drin­gen in die Wäl­der ein und ver­drän­gen ein­hei­mi­sche Ar­ten.»

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Der Rebbau

Werner Siegfried, Leiter Fachgruppe Weinbau, Agroscope

«Die Reben blühen viel­fach schon an­fangs bis Mit­te Ju­ni, al­so 1–2 Wo­chen frü­her als vor 20 Jah­ren. In den letz­ten 15 Jah­ren ha­ben beim Blau­bur­gun­der die Oechs­le­gra­de (der Zuc­ker­ge­halt der Trau­ben, Anm. d. Red.) im­mer wie­der neue Re­kor­de er­reicht. In den Jah­ren 1970–1980 wa­ren Wer­te von 80–85 Oechs­le­gra­den beim Blau­bur­gun­der das «höch­ste der Ge­füh­le». Heu­te kön­nen wir Trau­ben­qua­li­tä­ten le­sen mit 95 bis 100 Oechs­le­gra­den. Die Kli­ma­er­wär­mung er­laubt nun in der Deutsch­schweiz auch den An­bau von sehr spät rei­fen­den Sor­ten wie Mer­lot und Ca­ber­net Sau­vi­gnon. Zu den ne­ga­ti­ven Sei­ten des Kli­ma­wan­dels ge­hört eine Zu­nah­me der Nie­der­schlags­men­ge wäh­rend der Ve­ge­ta­ti­ons­zeit. Die be­güns­tigt das Auf­tre­ten von Pilz­krank­hei­ten.»

Der Tourismus

Daniela Bär, Mitglied der Direktion von Schweiz Tourismus

«Hauptreise­grund un­se­rer Gäs­te ist das Na­tur­er­leb­nis in der Schweiz. Vom Kli­ma­wan­del glei­cher­mas­sen be­trof­fen sind Mensch und Na­tur — aus die­sem Grund ist der Tou­ris­mus ge­ra­de in der Schweiz stark be­trof­fen. Wir se­hen aber nebst den ne­ga­ti­ven Aus­wir­kun­gen auch Chan­cen: Die Mit­tel­meer­räu­me er­fah­ren durch die Kli­ma­er­wär­mung einen sig­ni­fi­kan­ten An­stieg der Tem­pe­ra­tu­ren, was für vie­le zu un­er­träg­li­cher Hit­ze führt; hier bie­tet die Schweiz mit ih­rer al­pi­nen Fri­sche at­trak­ti­ve Al­ter­na­ti­ven.»

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Die Elektrizität

Guido Lichtensteiger, Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen, VSE

«Bisher sind kei­ne Aus­wir­kun­gen des Kli­ma­wan­dels und des bis­he­ri­gen Tem­pe­ra­tur­an­stiegs auf die Strom­pro­duk­ti­on in der Schweiz fest­zu­stel­len. Für die lang­fris­ti­ge Zu­kunft (zwei­te Hälf­te oder so­gar En­de des Jahr­hun­derts) wird ge­ne­rell mit einem Rück­gang der Jah­res­pro­duk­ti­on der Was­ser­kraft­wer­ke, de­ren An­teil an der Schwei­zer Strom­pro­duk­ti­on 60 Pro­zent be­trägt, ge­rech­net. Ein For­schungs­pro­jekt un­ter der Lei­tung des Geo­gra­phi­schen In­sti­tuts der Uni­ver­si­tät Bern (GIUB) und der Eid­ge­nös­si­schen For­schungs­an­stalt für Wald, Schnee und Land­schaft (WSL) hat im Herbst 2011 al­ler­dings die Er­kennt­nis ge­won­nen, dass bis 2100 die Strom­pro­duk­ti­on in den hoch ge­le­ge­nen Spei­cher­kraft­wer­ken zu­rück­ge­hen, die Er­zeu­gung der Kraft­wer­ke in nied­ri­ge­ren Ge­bie­ten je­doch zu­neh­men wird. Da­bei wer­den für die Zeit nach 2050 je­doch kei­ne kon­kre­ten Aus­sa­gen ge­macht.»

Die Versicherungen

Sabine Alder, Schweizerischer Versicherungsverband

«Klimaver­än­de­rung ist in der Ele­men­tar­scha­dens­ver­si­che­rung seit eini­gen Jah­ren ein gros­ses The­ma. Die mit dem Kli­ma­wan­del ein­her­ge­hen­den Un­wet­ter-, Hoch­was­ser- und Ha­gel­schä­den ha­ben näm­lich zu­ge­nom­men. Im Jahr 1970 bei­spiels­wei­se be­tru­gen die Zah­lun­gen aus dem Ele­men­tar­scha­den-Pool noch 21 Mil­lio­nen Fran­ken. Seit­her stie­gen sie kon­ti­nu­ier­lich an. Im Ka­ta­stro­phen­jahr 2005 wa­ren es 1,049 Mil­liar­den, 2013 120 Mil­lio­nen. Einer­seits neh­men we­gen der kli­ma­ti­schen Ver­än­de­run­gen Un­wet­ter an Häu­fig­keit und In­ten­si­tät zu, an­de­rer­seits nimmt die Kon­zen­tra­ti­on der ver­si­cher­ten Wer­te zu. Das führt zu hö­he­ren Schä­den. Da­rum wur­de die Scha­dens­sum­me pro Scha­dens­fall 2007 von einer auf zwei Mil­li­ar­den Fran­ken er­höht.»

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Die Menschen

Damiano Urbinello, Schweizerisches Tropen- und Public-Health-Institut.

«Die An­zahl an Hit­ze­ta­gen so­wie Tro­pen­näch­ten wird zu­neh­men. Be­reits be­ste­hen­de ge­sund­heit­li­che Prob­le­me kön­nen sich ver­stär­ken: Hit­ze kann et­wa die geis­ti­ge und kör­per­li­che Leis­tungs­fä­hig­keit schwä­chen so­wie zum Hit­ze­tod füh­ren. Eine Ana­ly­se der Sterb­lich­keit in der Schweiz im Hit­ze­som­mer 2003 hat er­ge­ben, dass rund 7 Pro­zent (975 Per­so­nen) mehr To­des­fäl­le re­gi­striert wur­den. In Ge­samt­euro­pa wur­de die Ster­be­ra­te auf un­ge­fähr 70'000 To­des­fäl­le ge­schätzt. Auf­grund der Kli­ma­er­wär­mung ist mit einer Zu­nah­me von be­reits be­ste­hen­den oder neu vor­kom­men­den In­fek­ti­ons­krank­hei­ten zu rech­nen, wie et­wa Sal­mo­nel­lo­se, West-Nil-Vi­rus, Chi­kun­gu­nya und Den­gue.»


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