Das
Bavonatal
VON VERA BUELLER
Was für ein wildes Tal! Steil aufragende
Felswände, kreuz und quer übereinander liegende Steinbrocken von
furchteinflössender Grüsse, alte Weiler aus Gneis und Granit,
kilometerlange Trockenmauern. Stein, wohin man schaut. Entsprechend verläuft auch der Wanderweg, der von Bignasco nach Foroglio, zu zahlreichen Zeugnissen der alten bäuerlichen Alpkultur führt: zu Unterständen, Ziegenställen, Vorratskammern, Holzlagern – im Schutz riesiger Felsbrocken. «Im lokalen Dialekt werden diese Unterstände ‹Splüi› genannt» erklärt Renato Lampert, Sekretär der Fondazione Valle Bavona. Er und die Stiftungspräsidentin, Rachele Gadea-Martini, lassen es sich nicht nehmen, Raimund Rodewald auf der Führung durch ihr Tal zu begleiten. Rodewald, der Geschäftsleiter der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz (SL), gehört zu den Leuten der ersten Stunde, die für den Schutz des Tals kämpfen.
«Ein Tal, das eigentlich keine Zukunft mehr hatte», meint Rodewald, «jedenfalls nicht, wenn man wirtschaftlich denkt. Da wäre es lohnender, eine Staumauer zu bauen und alles zu überfluten. Zum Glück gaben die Einheimischen mit Hilfe Auswärtiger das Tal aber nie auf». Hunger, Krankheit, Naturkatastrophen Im Val Bavona zählt heute die Kulturlandschaft als Wert: Der Wanderweg erzählt von den widrigen Lebensumständen, von Hunger, Krankheiten und Naturkatastrophen, die dazu führten, dass die Bewohner bereits um 1500 – als die klimatischen Bedingungen härter wurden – das Tal verliessen, um sich in Cavergno oder Bignasco anzusiedeln, wo das Bavonatal in die Valle Maggia mündet. Nein, von «guten», alten Zeiten ist da nicht die Rede. «Die Bewohner wurden zu Halbnomaden, die sich im Frühjahr mit ihren Tieren auf die Wanderschaft machten und auf verschiedenen Höhenstufen Wohnstätten und Ställe besassen. Diese Stufenwirtschaft nennt man Transhumanz», erzählt Renato Lampert, während er mit raumgreifenden Schritten den Weg voraus geht. Noch heute führen schwindelerregende Pfade auf höher gelegene Wiesen. Wie wertvoll jedes Fleckchen ebene Erde war, zeigen die «Prati pensili» («hängende Wiesen»): Winzige Wiesen auf Felsbrocken, die über eine Steintreppe erreichbar sind. Dort liess sich einst eine Hand voll Heu ernten. Die Strasse wird schmaler und steiler, die Dörfer ärmlicher, viele Häuser stehen leer. Dann geht es weiter über mächtige Baumwurzeln, der Weg schlängelt sich um riesige Gesteinsbrocken – Zeugen von gewaltigen Felsstürzen. Gegen 11 Uhr hat es die Sonne über den Berg geschafft. Doch die Morgenfrische bleibt im engen Talboden noch eine Weile gefangen. Ferien-Transhumanz Die schiere Not kennt das Val Bavona zwar nicht mehr. Aber noch immer lebt es von der Wanderschaft – doch handle es sich inzwischen um eine «Transumanza di vacanze», eine «Ferien-Transhumanz», wie Lampert lachend hinzufügt. Während das Tal im Winter leer, unbewohnt und für den Privatverkehr geschlossen ist, wird es im Sommer von rund 2000 Einwohnern bevölkert. Der Grossteil dieser «Freizeitnomaden» stammt noch immer aus den beiden Gemeinden Cavergno und Bignasco. Einzig Mondada, kurz nach dem Eingang ins Tal, befindet sich fest in deutscher und Deutschschweizer Hand. «Weil dieses Dorf schon früh mit einer Strasse erschlossen war. Für den Rest des Tals gab es lediglich einen Maultierpfad», bemerkt Raimund Rodewald. Die Strasse wurde erst in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit dem Bau der Wasserkraftwerke Maggia erstellt. Trotzdem gibt es noch heute im Val Bavona keinen Strom aus der Steckdose. Nur der letzte Ort des 12 Kilometer langen Tales, San Carlo, verfügt über Elektrizität – dank der Maggia-Kraftwerke, die dort eine Seilbahn bauten, um ins Gebiet Robiei vorzustossen.
Am elektrizitätslosen Zustand des Tals wird sich auch künftig nichts
ändern. Und was andernorts im Tessin ins Auge sticht, ist im Val Bavona
gar verboten: Zu Ferienhäuschen verschandelte Rustici mit
Parabolantenne, ausgebauter Zufahrt, possierlichem Gartenzwerg,
Grillplatz und Kreuz-Zaun.
Konzept mit Modellcharakter Dem Verbot liegt ein Konzept mit Modellcharakter zugrunde: Nachdem das Val Bavona 1983 ins Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung aufgenommen worden war, erarbeiteten die Gemeinden Bignasco und Cavergno einen wegweisenden Zonenplan. Er sollte die Kulturgüter des Tales schützen und gleichzeitig die Interessen der Bevölkerung fördern. «Dies geschah in einer Zeit, als es im Kanton noch keine Raumplanung gab. Bund und Kanton stritten sich noch immer darüber, wie mit Rustici ausserhalb der Bauzone umzugehen sei», erinnert sich Rodewald. Im Bavonatal ging man einfach ans Werk, wies den Weilern Bauzonen zu, verbunden mit äusserst strengen Nutzungs- und Baukriterien. Die Kontrolle darüber überliessen die Gemeinden nicht der Baupolizei, sondern schufen zu diesem Zweck 1990 die «Fondazione Valle Bavona». In dieser Stiftung sitzen nicht nur Einheimische Behördenvertreter, sondern auch externe Fachleute von Bund und Kanton sowie vom Heimatschutz. «Die Zusammensetzung mit Leuten von ausserhalb ist wichtig. Das macht uns unabhängig», betont die junge, frisch ins Amt berufene Rachele Gadea-Martini. Vielsagend lächelnd gibt sie zu bedenken, dass in engen Dorfgemeinschaften immer die gleichen Lokalgrössen in verschiedenen Gremien sitzen würden. «Das führt automatisch zu Interessenskonflikten.» Die Fondazione ist denn auch zuständig, wenn es um die Verteilung von Subventionen für die Landschaftspflege geht (5 Franken pro Aare). Zum Unterhalt ist jeder Hauseigentümer verpflichtet, auch wenn der Boden um sein Haus nicht ihm gehört. «Dafür gibt es zwar kein Gesetz, aber eine moralische Verpflichtung», meint Renato Lampert. Wichtigster Geldgeber nebst Bund, Kanton und der Gemeinde Cevio ist der Heimatschutz sowie die Stiftung Landschaftsschutz. Eine halbe Million Franken stehen der Fondazione pro Jahr zur Verfügung. Hinzu kommt die Hilfe vieler Freiwilliger; oft sind es Firmen, die ihre Lehrlinge für ein paar Tage «Ferien» ins Bavonatal schicken. Eine längst versunken geglaubte Welt
Die Resultate sind beeindruckend: Alte Kastanienhaine wurden aufgeforstet, Hunderte
von Kilometern Trockenmauern und Terrassierung, Häuser und Steindächer
repariert, Wiesen und Weiden wieder nutzbar gemacht, Wege vom
wuchernden Wald befreit, Ziegenställe, Unterstände und Kapellen
restauriert. In Foroglio lädt das Grotto La Froda zur wohlverdienten Rast. Es beherzigt die Slow-Food-Philosophie und ist berühmt für seine Alpenküche. Vor dem Grotto schaffen Arbeiter eine neue Piazza, setzen Stein für Stein «ohne Beton, nur mit Sand», betont Lampert bewundernd und zugleich stolz. Und wie wenn es sich um weiches Holz handeln würde, meisseln die Maurer die Gneisbrocken zurecht – 9 Stunden pro Tag. Noch besteht bei allen am Projekt Bavonatal Beteiligten ein Konsens darüber, dem Tal seinen wilden Charakter zu belassen und die menschlichen Eingriffe in die Natur auf ein Minimum zu beschränken. Doch Rodewald warnt davor, dass die Kraftwerke eine zweite Leitung bauen könnten. «Und dann kommt plötzlich die Frage auf, was mehr Wert hat: Strom oder Kulturland?» Einen Vorgeschmack auf eine solche Debatte liefert die Diskussion über das Nationalpark-Projekt im Locarnese. Das Val Bavona wäre ein wichtiger Teil davon. Einige lokale Grössen schüren jetzt die Angst «vor einem Park der Wölfe, in dem weder Heidelbeeren noch Pilze gesammelt werden dürfen». Für Rodewald ist das unverständlich: «Das sind einige wenige, die auf irgendwelche Grossprojekte à la Andermatt hoffen». Sie begreifen nicht, was ihr Tal Wert ist. «Wenn irgendwo ein Nationalpark Sinn macht, dann hier!» – im Tal, das in Stein gemeisselt ist. Dieser Text ist auch im «Beobachter Natur» (9/2009) erschienen.
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