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 Das Bavonatal
Im Tal der Steine

 

VON VERA BUELLER

 Was für ein wildes Tal! Steil aufragende Felswände, kreuz und quer über­ein­an­der liegende Steinbrocken von furchteinflössender Grüsse, alte Weiler aus Gneis und Granit, kilometerlange Trockenmauern. Stein, wohin man schaut.
Es ist eine Welt von herber Schönheit, die sich dem Wanderer auf dem «Percorso della transumanze» erschliesst – oder wie der Tessiner Politiker und Wohltäter Federico Balli 1885 schrieb: «Dem Tal ist eigen, ständig vom Schrecklichen ins Lieb­rei­zen­de überzugehen.»

Entsprechend verläuft auch der Wanderweg, der von Bignasco nach Foroglio, zu zahl­reichen Zeugnissen der alten bäuerlichen Alpkultur führt: zu Unterständen, Zie­gen­stäl­len, Vorratskammern, Holzlagern – im Schutz riesiger Felsbrocken. «Im lo­ka­len Dialekt werden diese Unterstände ‹Splüi› genannt» erklärt Re­na­to Lam­pert, Sekretär der Fondazione Valle Bavona. Er und die Stiftungspräsidentin, Ra­che­le Gadea-Martini, lassen es sich nicht nehmen, Raimund Rodewald auf der Füh­rung durch ihr Tal zu begleiten. Rodewald, der Geschäftsleiter der Stiftung Land­schafts­schutz Schweiz (SL), gehört zu den Leuten der ersten Stunde, die für den Schutz des Tals kämpfen.

Val Bavona Val Bavona

Val Bavona Val Bavona

«Ein Tal, das eigentlich keine Zukunft mehr hatte», meint Rodewald, «jedenfalls nicht, wenn man wirtschaftlich denkt. Da wäre es lohnender, eine Staumauer zu bauen und alles zu überfluten. Zum Glück gaben die Einheimischen mit Hilfe Aus­wär­ti­ger das Tal aber nie auf». top

Hunger, Krankheit, Naturkatastrophen

Im Val Bavona zählt heute die Kulturlandschaft als Wert: Der Wanderweg erzählt von den widrigen Lebensumständen, von Hunger, Krankheiten und Natur­ka­ta­stro­phen, die dazu führten, dass die Bewohner bereits um 1500 – als die klimatischen Be­din­gun­gen härter wurden – das Tal verliessen, um sich in Cavergno oder Bi­gna­sco anzusiedeln, wo das Bavonatal in die Valle Maggia mündet.

Nein, von «guten», alten Zeiten ist da nicht die Rede. «Die Bewohner wurden zu Halb­nomaden, die sich im Frühjahr mit ihren Tieren auf die Wanderschaft machten und auf verschiedenen Höhenstufen Wohnstätten und Ställe besassen. Diese Stu­fen­wirt­schaft nennt man Transhumanz», erzählt Renato Lampert, während er mit raum­greifenden Schritten den Weg voraus geht. Noch heute führen schwin­del­er­re­gen­de Pfade auf höher gelegene Wiesen. Wie wertvoll jedes Fleckchen ebene Erde war, zeigen die «Prati pensili» («hängende Wiesen»): Winzige Wiesen auf Fels­broc­ken, die über eine Stein­trep­pe erreichbar sind. Dort liess sich einst eine Hand voll Heu ernten.

Die Strasse wird schmaler und steiler, die Dörfer ärmlicher, viele Häuser stehen leer. Dann geht es weiter über mächtige Baumwurzeln, der Weg schlängelt sich um riesige Gesteinsbrocken – Zeugen von gewaltigen Felsstürzen. Gegen 11 Uhr hat es die Sonne über den Berg geschafft. Doch die Morgenfrische bleibt im engen Tal­bo­den noch eine Weile gefangen. top

Ferien-Transhumanz

Die schiere Not kennt das Val Bavona zwar nicht mehr. Aber noch immer lebt es von der Wanderschaft – doch handle es sich inzwischen um eine «Transumanza di vacanze», eine «Ferien-Transhumanz», wie Lampert lachend hinzufügt. Wäh­rend das Tal im Winter leer, unbewohnt und für den Privatverkehr geschlossen ist, wird es im Sommer von rund 2000 Einwohnern bevölkert.

Der Grossteil dieser «Freizeitnomaden» stammt noch immer aus den beiden Ge­mein­den Cavergno und Bignasco. Einzig Mondada, kurz nach dem Eingang ins Tal, befindet sich fest in deutscher und Deutschschweizer Hand. «Weil dieses Dorf schon früh mit einer Strasse erschlossen war. Für den Rest des Tals gab es lediglich einen Maultierpfad», bemerkt Raimund Rodewald. Die Strasse wurde erst in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit dem Bau der Wasserkraftwerke Maggia erstellt. Trotzdem gibt es noch heute im Val Bavona keinen Strom aus der Steckdose. Nur der letzte Ort des 12 Kilometer langen Tales, San Carlo, verfügt über Elektrizität – dank der Maggia-Kraftwerke, die dort eine Seilbahn bauten, um ins Gebiet Robiei vorzustossen.

Am elektrizitätslosen Zustand des Tals wird sich auch künftig nichts ändern. Und was andernorts im Tessin ins Auge sticht, ist im Val Bavona gar verboten: Zu Fe­ri­en­häus­chen verschandelte Rustici mit Parabolantenne, ausgebauter Zufahrt, pos­sier­li­chem Gartenzwerg, Grillplatz und Kreuz-Zaun.

Konzept mit Modellcharakter

Dem Verbot liegt ein Konzept mit Modellcharakter zugrunde: Nachdem das Val Ba­vo­na 1983 ins Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von na­tio­na­ler Bedeutung aufgenommen worden war, erarbeiteten die Gemeinden Bignasco und Cavergno einen wegweisenden Zonenplan. Er sollte die Kulturgüter des Tales schützen und gleichzeitig die Interessen der Bevölkerung fördern. «Dies geschah in einer Zeit, als es im Kanton noch keine Raumplanung gab. Bund und Kanton strit­ten sich noch immer darüber, wie mit Rustici ausserhalb der Bauzone um­zu­ge­hen sei», erinnert sich Rodewald.

Im Bavonatal ging man einfach ans Werk, wies den Weilern Bauzonen zu, ver­bun­den mit äusserst strengen Nutzungs- und Baukriterien. Die Kontrolle dar­über über­liessen die Gemeinden nicht der Baupolizei, sondern schufen zu die­sem Zweck 1990 die «Fondazione Valle Bavona».

In dieser Stiftung sitzen nicht nur Einheimische Behördenvertreter, sondern auch ex­terne Fachleute von Bund und Kanton sowie vom Heimatschutz. «Die Zu­sam­men­set­zung mit Leuten von ausserhalb ist wichtig. Das macht uns unabhängig», betont die junge, frisch ins Amt berufene Rachele Gadea-Martini. Viel­sa­gend lä­chelnd gibt sie zu bedenken, dass in engen Dorfgemeinschaften immer die gleichen Lo­kal­grös­sen in verschiedenen Gremien sitzen würden. «Das führt auto­ma­tisch zu Interessenskonflikten.»

Die Fondazione ist denn auch zuständig, wenn es um die Verteilung von Subventionen für die Landschaftspflege geht (5 Franken pro Aare). Zum Unterhalt ist jeder Hauseigentümer verpflichtet, auch wenn der Boden um sein Haus nicht ihm gehört. «Dafür gibt es zwar kein Gesetz, aber eine moralische Verpflichtung», meint Renato Lampert. Wichtigster Geldgeber nebst Bund, Kanton und der Gemeinde Cevio ist der Heimatschutz sowie die Stiftung Landschaftsschutz. Eine halbe Million Franken stehen der Fondazione pro Jahr zur Verfügung. Hinzu kommt die Hilfe vieler Freiwilliger; oft sind es Firmen, die ihre Lehrlinge für ein paar Tage «Ferien» ins Bavonatal schicken. top

Eine längst versunken geglaubte Welt

Die Resultate sind beeindruckend: Alte Kastanienhaine wurden aufgeforstet, Hun­der­te von Kilometern Trockenmauern und Terrassierung, Häuser und Steindächer repariert, Wiesen und Weiden wieder nutzbar gemacht, Wege vom wuchernden Wald befreit, Ziegenställe, Unterstände und Kapellen restauriert.
Wandernd staunt man nun über eine längst versunken geglaubte Welt. Der Fuss­weg führt immer tiefer ins Tal, mitten drin liegt Foroglio. Ein Vorzeigedorf mit schmuc­ken Häus­chen, alles Stein in Stein gehauen. Gleich daneben ein schon von weitem sichtbarer Wasserfall, der 110 Meter von einer steilen Bergwand in die Tiefe stürzt.

In Foroglio lädt das Grotto La Froda zur wohlverdienten Rast. Es beherzigt die Slow-Food-Philosophie und ist berühmt für seine Alpenküche. Vor dem Grotto schaf­fen Arbeiter eine neue Piazza, setzen Stein für Stein «ohne Beton, nur mit Sand», betont Lampert bewundernd und zugleich stolz. Und wie wenn es sich um weiches Holz handeln würde, meisseln die Maurer die Gneisbrocken zurecht – 9 Stunden pro Tag.

Noch besteht bei allen am Projekt Bavonatal Beteiligten ein Konsens darüber, dem Tal seinen wilden Charakter zu belassen und die menschlichen Eingriffe in die Natur auf ein Minimum zu beschränken.

Doch Rodewald warnt davor, dass die Kraftwerke eine zweite Leitung bauen könn­ten. «Und dann kommt plötzlich die Frage auf, was mehr Wert hat: Strom oder Kul­tur­land?» Einen Vorgeschmack auf eine solche Debatte liefert die Diskussion über das Nationalpark-Projekt im Locarnese. Das Val Bavona wäre ein wichtiger Teil davon.

Einige lokale Grössen schüren jetzt die Angst «vor einem Park der Wölfe, in dem weder Heidelbeeren noch Pilze gesammelt werden dürfen». Für Rodewald ist das un­ver­ständlich: «Das sind einige wenige, die auf irgendwelche Grossprojekte à la An­der­matt hoffen». Sie begreifen nicht, was ihr Tal Wert ist. «Wenn irgendwo ein Na­tio­nal­park Sinn macht, dann hier!» – im Tal, das in Stein gemeisselt ist.

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Dieser Text ist auch im «Beobachter Natur» (9/2009) erschienen.

Eintauchen in die Vergangenheit


Anreise: Ab Locarno mit dem Bus bis Bignasco, 1 Stunde.
Routen: Der «Percorso della transumanza» von Bignasco nach Foroglio ist gut ausgeschildert. Länge: sechs Kilometer, ca. 2 Stunden, 250 Meter Höhen­un­ter­schied. Zurück mit dem Postauto nach Bignasco (letzte Fahrt: 17.22), oder wei­ter nach San Carlo (1,5 Stunden, letztes Postauto 17.10).
Warnung: Der Weg von Foroglio ins Val Calnègia bis zu den Seen der Crosa setzt gute Kondition und Bergausrüstung voraus!

Übernachtung:«Ca’Stella», «Turisti» oder «Posta» in Bignasco; «Basodino» in San Carlo; «Eco – Hotel Cristallina» in Coglio; Pension/Jugendherberge «Ostello la curva» in Cavergno.

Verpflegung: «Grotto di Baloi», Fontana; «Grotto La Froda», Foroglio; «Grotto Sonlerto», Sonlerto; «Ristorante Basodino», San Carlo.

Information/Führungen: Stiftung Valle Bavona, Telefon 091 754 25 50. www.valle-bavona.ch, www.guidevallemaggia.ch

Literatur-Tipp: Plinio Martini: «Nicht Anfang und nicht Ende», Limmat-Verlag, 2006, CHF 36.-

 

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